Kurdistan: Nochmal, es war so schön!
Es gehört für mich zu den schönsten Reaktionen auf eine Märchenerzählung, wenn es hinterher heißt: „Nochmal!“ Sie wollen tatsächlich dasselbe noch einmal hören, denn es war so schön, dass es nie zuende gehen soll. Auch in einer sehr schwierigen Umgebung ist mir das einmal passiert.
2015 im November im Nord-Irak, genauer in Kurdistan, hatte ich einen Einsatz als Märchenerzählerin von Erzähler ohne Grenzen. In zwei Flüchtlingslagern mit zusammen 30.000 Menschen wurde ein trauma- und notfallpädagogisches Programm für Kinder aufgebaut, das schon ein Jahr existierte und regelmäßig tätig war. Etwa 10 Menschen aus der Umgebung, davon 7 jesidische meist junge Menschen aus den Camps und 3 muslimische Kurden aus der nahen Umgebung wurden ausgebildet, täglich mit etwa 200 Kindern zu arbeiten. Ein alle 3 Monate anreisendes Team aus Deutschland und zwei ständige Mitarbeiterinnen der Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners, Abteilung Notfallpädagogik, begleiten regelmäßig die Ausbildung der Helferinnen und Helfer. Die haben selber zumeist traumatisierende Erlebnisse hinter sich und leben in erbärmlichen Verhältnissen in Zelten. Das Erzählen hatte sich noch nicht etabliert, und es war nun meine Aufgabe, diese pädagogisch-therapeutische Arbeit mit Märchen und Erzählen einzuführen.
Ein älterer Mann, der Mr. Hamid genannt wird, und vor dem alle Respekt haben, wurde mir als Übersetzer zugeteilt. Er hatte all seinen Besitz verloren durch DAESCH, wie IS im arabischen genannt wird, und lebte mit seiner Frau in einem Zelt, im Winter in bitterer Kälte, im Sommer in unerträglicher Hitze. Mr. Hamid hatte vor vielen Jahren in sechsjähriger iranischer Kriegsgefangenschaft heimlich mit einem englisch-arabischen Wörterbuch englisch gelernt. Ich arbeite im Ausland meist in englischer Sprache. Weil übersetzen, auch wenn es noch so professionell geschieht, den Zauber und damit die Kraft der Märchenerzählungen nicht vermitteln kann, müssen Erzählerin und Übersetzer sich gemeinsam an der Sache begeistern, und das ist uns gelungen.
Die Situation in den UNICEF-Schulen in diesen Camps ist nicht ermutigend, obwohl sie eine gewisse Regelmäßigkeit garantieren. Es sind meist quadratische klapperige Gebäude mit einem Innenhof, in dem sich viel Müll befindet. Die Schulräume sind mit Tischen und Bänken möbliert, die oft zerstört werden. Berge dieser kaputten Schulmöbel befanden sich in einer Ecke vor geradezu unbeschreiblichen Toiletten.Der Direktor hat ein sauberes und geräumiges Büro, wo er mit Schlips und Anzug residiert. Lehrer streikten, als wir dort waren, weil das Gehalt nicht gekommen ist und liessen die Kinder allein in den Klassenräumen herumsitzen, wo sie sich prügeln und die Möbel zerstören. So jedenfalls in der einen Schule, in der anderen, in der wir arbeiteten, ist es besser.
Jeden Morgen warten etwa 200 Kinder auf uns – auch solche, die gar nicht dort zu Schule gehen. Es ist ein wilder Haufen Kinder. Dieses Mal bieten wir für Klasse 1–4 unsere Stunden an, es kommen Kinder zwischen 5 und 10 Jahren. Wir bieten immer jeweils 40–50 Kindern im Rotationsprinzip eine Stunde verschiedenes wie Malen, Musik, Bewegungsspiele.
Dieses Mal ist die Märchenstunde dabei. Bevor es los geht, bringt Mr. Hamid den verdreckten Klassenraum in Ordnung. Es wird gefegt und gewischt und die
Bänke, die mit den Tischen verbunden sind, in einen Halbkreis gestellt, denn frontal hinter Tischen verschanzt kann man nicht Märchen erleben. So haben die Kinder die Tische im Rücken und können uns frei zuhören, auch mal aufstehen und interaktiv mit machen.
Die Kinder kommen nach einem großen Morgenkreis, in dem geklatscht, getanzt, gesprochen und gesungen wurde, in die Klasse. Manche prügeln sich, sind aufgeregt. Wir fangen an mit rhythmischen Geschichten und Interaktion, mein Märchenhuhn macht das Entree und legt bunte Eier, und dann erzählen wir zweisprachig das Märchen. Manchmal die Bremer Stadtmusikanten, manchmal Fundevogel, beides Märchen der Brüder Grimm. Das ist völlig ungewohnt für die Kinder, aber sie mögen es. Anschließend drehen sie den Rücken zur Mitte und jedes malt konzentriert auf seinem Platz ein Bild mit bunten Wachskreiden. Ein kleiner Abschlusskreis mit Zeigen der Bildern bildet das Ende. Dann geht es in die nächste Abteilung und neue Kinder kommen zu uns, viermal am Morgen. Ich bin erschöpft. Alle Kinder werden hinaus geführt zum Sportplatz wo eine große Runde mit allen den Abschluss bildet. Danach verlassen alle die Schule, zu ihren Familien oder zum Spielen.
Ich bleibe als gehbehinderte alte Dame im Klassenraum und bewache die Requisiten und Rucksäcke des Teams. Es ist kalt und der Klassenraum wieder schmutzig. Durchs Fenster sehe ich auf den betonierten Sportplatz und höre, was gerade dran ist: „Über mir der Himmel, unter mir die Erde und hier bin ich“, das Abschlussritual mit Bewegung in kurdischer Sprache. Das Ende des Vormittagsprogramms. Alles strömt zum Ausgang.
Einmal war das ganz anders. Während ich da saß, auf die KollegInnen und die Heimfahrt ins Hotel wartete, alles sich zum Ausgang drängte, füllte sich plötzlich der Raum mit Kindern, die mich dort sitzen gesehen hatten. Sie waren alle in den verschiedenen Stunden schon einmal da gewesen und vielleicht hatte eins gesagt: Sie ist noch da! Kommt!
Etwa 30 Kinder saßen eng an eng im Halbkreis auf den Bänken und schauten mich an. Sie waren ungewöhnlich ruhig und erwartungsvoll. „Nochmal“, so schön war es gewesen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, denn wir konnten ja nicht miteinander kommunizieren. Ich versuchte mein schönstes liebevoll strenges Gesicht und begann Ruhe auszustrahlen, bis Mr. Hamid erschien und mein Team zum Aufbruch drängte. „Morgen kommen wir wieder!“ sagte Mr. Hamid auf arabisch. Da waren sie froh, standen auf und wir winkten einander vergnügt zum Abschied.
Wieder einmal war es gelungen, mit dem Erzählen von Märchen Zuwendung und Heimat zu schaffen, einen Raum, der immateriell aber unvergesslich ist.
Das Erlebnis hat gezeigt, dass für diese jesidischen Kinder, die mit ihren Eltern traumatisierende Erlebnisse von Vertreibung, Blut vergießen und Flucht hinter sich hatten, Märchen und lebendiges Erzählen von Mund zu Ohr ihre Seelen ernähren und ein Stück weit heilen kann, allerdings gemeinsam mit anderen traumapädagogischen und notfallpädagogischen Maßnahmen. Ich wünsche mir, dass Erzähler ohne Grenzen noch viel mehr in diese Flüchtlingscamps im Orient reist, um eine solche Arbeit zu leisten.
Micaela Sauber