Gaza
Spuren von Licht in dunklen Zeiten
Gaza im Jahr 2010 mit seinen 1,6 Millionen Einwohnern, davon über die Hälfte Kinder und Jugendliche, wirkt dunkel trotz des gleißenden Sonnenlichtes. Sinai und die Wüste sind nah und eine hohe Mauer läuft ums Land, rundherum weiß man bewaffnete Soldaten, auch auf Patrouillenbooten 3 Seemeilen vor der Küste. Viele Häuser sind grau, aus Trümmern werden neue Bauelemente hergestellt. Alles wirkt dunkel und unfroh. Mein arabischer Übersetzer, mit dem ich englisch kommuniziere, und ich besuchen Kindergärten, um dort Kostproben der Erzählkunst zu geben. Beklemmend wirkt es vielerorts, kein Spielzeug, keine Räume zum Spielen. Es soll schon früh mit dem Lesen und Schreiben begonnen werden, “Erzählen” heißt Vorlesen aus kleinen Büchern mit Comic-Figuren und kleinen Texten. Erzählen heißt hier meist, eine Lehre zu erteilen, wie im Struwwelpeter mit seiner “schwarzen Pädagogik”.
Wir bekommen einen Raum, verschüchterte Vier- und Fünfjährige werden gebracht, die Türen bleiben offen, Leute kommen und gehen, fotografieren oder schwatzen, Erzieherinnen handeln übergriffig, oft auch richtig grob.
Wir bitten, Störungen zu vermeiden, die Türen zu schließen. Die Kinder fordern wir auf, im Kreis zu sitzen. Das ist ein Kunststück, denn man ist gewohnt, im Rechteck zu sitzen. Ein kleiner Spruch von Sonne, Mond und Sternen, von Gesten begleitet.
Dann zaubere ich mein Märchenhuhn aus Plüsch hervor, das unter Gackern bunte Eier legt, die es anschließend bebrütet. Das Märchen kann beginnen.
Bevor das blaue, gelbe und rote Küken geschlüpft ist, erzählen wir. Für die kleinen Kinder lassen wir den Großvater kommen, der einen Rübensamen in der Hand hat. Wir legen ihn ausdrucksvoll in die imaginierte Erde, klopfen sie fest. Dann begießen wir mit dem Daumen, die Faust wird Gießkanne, das ganze, öfters, “von Tag zu Tag”. Einige Kinder machen vergnügt mit. Jetzt wächst die Rübe, sie wird riesengroß, soll geerntet werden, doch sie lässt sich vom Großväterchen nicht heraus ziehen. Nacheinander tauchen auf und helfen mit: die Großmutter, das Enkelchen, das Hündchen, das Kätzchen, jedoch, die Rübe lässt sich nicht ziehen.
Nun kommt das Mäuschen. Es beißt das Kätzchen am Schwänzchen und zieht mit, das Kätzchen zieht beim Hündchen, das Hündchen am Hosenbein vom Enkelchen, das Enkelchen fasst Großmütterchens Rock, das Großmütterchen fasst Großväterchen, und — schwups — da ist die Rübe heraus. Was für eine Freude! Bei den Kindern, bei den Erzieherinnen.
Und jetzt kommen noch die bunten Küken aus dem verborgenen Nest in der Tasche. Das rote ist besonders frech und springt zu den Kindern. Herrlich. Huhn, bunte Küken, das kleine russische Kettenmärchen ziehen eine Spur der Freude hinter sich her.
Bald 50 mal, immer wieder, von Kindergarten zu Kindergarten haben wir das gemacht und auch unsere Freude ist uns nicht ausgegangen.
Es war einmal eine Lichtspur in einem dunklen Land, und wenn sie nicht gewesen wäre, könnte man nicht von ihr erzählen…
Micaela Sauber