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Die Arbeit mit Demenzkranken

Heute leben nach ein­er Schätzung 1,3 Mil­lio­nen Men­schen mit Demenz in Deutsch­land, in Öster­re­ich 130.000 und 120.000 in der Schweiz. Man nimmt an, dass dieser Wert sich bis zum Jahre 2050 ver­dop­peln wird, in Deutsch­land wahrschein­lich schon früher (Berlin-Insti­tut für Bevölkerung und Entwick­lung für Deutsch­land, Öster­re­ich und der Schweiz).

Da sich die Anzahl der Pflege- und Betreu­ungskräfte voraus­sichtlich nicht ver­dop­peln wird ist fol­gende Frage eine wichtige gesellschaftliche und poli­tis­che Auf­gabe. „Wie gehen wir mit unseren „Dementen“ um?“

Daraus ergibt sich: Was brauchen die an Demenz lei­den­den in den ver­schiede­nen Sta­di­en ihrer Erkrankung? Neben ein­er guten pflegerischen Ver­sorgung brauchen die Men­schen, eine Förderung des Wohlbefind­ens und eine Anerken­nung ihrer eige­nen Sicht auf die Welt, sowie die Anerken­nung beson­ders vorhan­den­er Ressourcen wie z. B.: der Emotionalität.

In diesem Zusam­men­hang wird deut­lich, dass dem Ein­satz der Erzäh­lkun­st, ins­beson­dere dem Erzählen von Märchen und Geschicht­en, einen hohen Stel­len­wert in der Arbeit mit an Demenz erkrank­ten zukommt.

„Märchen-Inseln“ — 
Erzählen für einzelne Menschen im Altersheim

Bericht aus der Arbeit von Karin Tscholl / Frau Wolle

Am 24. + 25. Dezem­ber 2014 ging ich nach­mit­tags in ein Inns­bruck­er Alter­sheim, um einzel­nen Men­schen in ihren Zim­mern je ein Märchen zu erzählen. Das habe ich ehre­namtlich getan in Rah­men mein­er Arbeit für „Erzäh­ler ohne Gren­zen“. Hier sind meine Erfahrun­gen mit ein­er für mich neuen FORM des Erzäh­lens für Men­schen mit Demenz. Vielle­icht regen sie zur Nachah­mung an, ermuti­gen oder lassen neue Ideen und weit­ere For­mate auf­tauchen. Als Grund­vo­raus­set­zung bringe ich mit, dass ich seit langem pro­fes­sionell erzäh­le, mich mit Val­i­da­tion (ein­er Kom­mu­nika­tion­s­meth­ode für den Umgang mit alten veri­wr­rten Men­schen) beschäftigt und bere­its seit 2010 beim Erzählen für größere Grup­pen im Alter­sheim Erfahrun­gen gesam­melt habe. Zuerst erk­läre ich meine Idee dahin­ter und dann erzäh­le ich drei konkrete Erlebnisse.

DIE IDEE DAHINTER

Mein Wun­sch ist, dass ich auf diese Weise mehr direk­ten Kon­takt zu jew­eils einer/m Zuhörer/in auf­bauen und mein Erzählen auf sie abstim­men kann. Auch kann ich bet­tlä­grige Men­schen erre­ichen und manch­mal beim Erzählen die Hand der/s Zuhörer/in hal­ten. Beim Erzählen und beim Berühren ist es sehr wichtig, die Gren­zen der Men­schen mit Demenz zu acht­en. Was ich tue soll ein Ange­bot sein, keine “Zwangs-Beglück­ung”. Es ist wesentlich am Anfang und auch während des Erzäh­lens zu Spüren oder zu Erfra­gen, ob etwas auch willkom­men ist! Mir geht es darum, für jew­eils einen Men­schen mit Demenz für eine Weile eine kleine Insel der Gebor­gen­heit und Entspan­nung zu kreieren. Das geschieht ein­er­seits durch die Erzähl-Sit­u­a­tion selb­st: Anders als bei einem gewöhn­lichen Gespräch braucht die Zuhörer/in für einen bes­timmten Zeitraum nichts zu sagen und sich auch nicht um Ver­ste­hen bemühen oder ein Ver­ste­hen vorgeben. Ander­er­seits entste­ht dieser wohltuende Raum auch durch Form und Inhalt der Geschicht­en: Volksmärchen sprechen in Bildern und über Gefüh­le, die nach mein­er Erfahrung auch Men­schen erre­ichen, die mit herkömm­lichen Gespräch­s­the­men nur mehr wenig anfan­gen kön­nen. Die Gefühlswelt eines Men­schen mit Demenz ist ja noch ganz lebendig — es heisst “das Herz wird nicht dement”. Außer­dem fol­gen Märchen und Erzählen ein­er Ord­nung und einem Rhyth­mus, der sehr tiefe “Erin­nerun­gen” der Zuhörer/innen anspricht. Es ist leicht, dieser Struk­tur zu fol­gen, den Anfang, den Tief­punkt und die Lösung intu­itiv zu verstehen.

DREI un-spektakuläre ERLEBNISSE

1. Frau W. sitzt im Roll­stuhl. Sie spricht schon länger nicht mehr, macht aber fast den ganzen Tag „Th, th, th, .…“ und bewegt dabei hin und her wis­chend ihre linke Hand auf dem Tisch ihres Roll­stuhls. Sie macht das Geräusch beim Ein- und Ausat­men unaufhör­lich. Nach einiger Zeit in ihrer Nähe nimmt man das Geräusch nicht mehr wahr, doch wenn sie ver­s­tummt, ist die Stille sehr ein­drück­lich. Ich erzäh­le ein Märchen, in dem es um drei Königssöhne, um Licht und Dunkel­heit geht. Als der dritte Prinz den König in den Thron­saal führt, hört Frau W. auf „th, th, th“ zu sagen. Bald darauf begin­nt sie wieder. Bei den let­zten Sätzen des Märchens wird Frau W. ganz still. Dies­mal habe ich ganz klar das Gefühl, dass sie auf das gute Ende reagiert. Sie hebt den Blick, um mich direkt anzuse­hen. Für einen Augen­blick sucht sie den Kon­takt zu mir.

2. Her­rn B. aus Ghana, der nie spricht, erzäh­le ich auf Englisch weil ich denke, dass er diese Sprache lange vor Deutsch gel­ernt hat. Er wirkt auf mich sehr ein­sam. Er ist ein großer Mann, hat noch ganz schwarze und kaum graue Haare und kann sich nur sehr eingeschränkt bewe­gen. Er hat­te einen Schla­gan­fall, von dem er sich nie ganz erholen kon­nte, ob er Demenz hat, ist unklar, weil er gar nicht spricht. Ich halte vor­sichtig seine Hand, während ich erzäh­le und bin sehr aufmerk­sam, um zu merken, was er möchte.
Mir kommt vor, dass sein Kör­p­er sich entspan­nt, als ich beginne und mein Erzählry­th­mus entste­ht. Ich glaube, er erken­nt die Zuhör-Sit­u­a­tion. Ich wäh­le das west­afrikanis­che Märchen vom Jäger und dem Blind­en. Während ich erzäh­le schließt er manch­mal die Augen. Als das Märchen dem Ende nahe ist, glaube ich noch ein­mal eine Reak­tion sein­er­seits zu spüren. Er atmet tiefer.

3. Frau U. ist eine sehr kleine Frau mit einem Lächeln, das nicht nur ihr Gesicht, son­dern den ganzen Raum füllt. Auf meine Frage, ob sie ein Märchen hören mag, meint sie gle­ich: „Das wäre gut“ und so ist es dann auch. Für sie wäh­le ich das Elsass­er Märchen „Die Trä­nen­fee“, das ich im Dialekt erzäh­le. Als ich die drei Feen beschreibe, sagt Frau U., dass ich auch sehr schön sei und zeigt dabei auf mein langes Kleid mit den glitzern­den Perlen. Später wirft sie ab und zu ein: „Sie wis­sen alles.“ Drei Mal antworte ich, dass ich wisse, wie die Geschichte weit­erge­ht und kehre zum Erzählen zurück.
Beim vierten Mal beschreibe ich ger­ade, wie die Heldin des Märchens in ihrer Ehe unglück­lich wird. Als Frau W. sagt: „Sie wis­sen alles.“, frage ich zurück: „Was weiß ich denn?“ Sie antwortet ohne zu zögern: „Wie es ihr wieder bess­er geht.“ Ich erwidere, dass ich das schon wüsste, es der Gräfin aber zuerst noch ein wenig schlechter gehen würde. Am Ende geht die Geschichte gut aus und Frau U. atmet tief. Sie meint nach kurz­er Pause: „Mei, kom­mens wieder ein­mal.“ Danach frage ich, ob ihr das Märchen gefall­en habe. Sie meint ganz klar und bes­timmt „ja“ und fragt mich noch mehrmals, ob ich wiederkom­men werde. Ich beja­he. Sie schüt­telt mir sehr freudig die Hand und bedankt sich herzlich.

Karin Tscholl — Frau Wolle
Maerch­en­erza­ehlerin Geschicht­en­erza­ehlerin Maerchen­buch­schreiberin
✆ 0043 512 37 03 16

Erzählen im Altersheim Februar 2025 — Karin Tscholl — Frau Wolle

Rah­men

Seit 2009 gehe ich regelmäßig ins gle­iche Alter­sheim und erzäh­le dort ehre­namtlich Volksmärchen für eine Gruppe von Bewohner*innen. Hier beschreibe ich einen Besuch im Feb­ru­ar 2025. Das hier ist ein Erfahrungs­bericht und nicht als Anleitung für andere gedacht. Manch­es sind typ­is­che Her­aus­forderun­gen, manch­es ist jedes Mal anders.

Ich habe bewusst keine beein­druck­ende „Wun­dergeschichte“ beschrieben. Es ist möglich, dass jemand, der schon lange nicht mehr spricht, durch ein Märchen dazu ani­miert wird, etwas zu sagen. Es kann auch vorkom­men, dass das Märchen­hören jeman­den beruhigt oder danach ohne Rol­la­tor fort­wan­dern lässt. Aber 90 % dieser Arbeit ist eher so, wie ich es hier beschreibe – unspek­takulär, her­aus­fordernd und sehr berührend, wenn echter Kon­takt gesucht wird.

(Dies ist ein Foto von einem anderen Termin.)

Der Anfang

Heute kann ich das Spin­nrad mit­nehmen. Das schafft eine beson­dere Atmo­sphäre. Viele der alten Leute kön­nen sich noch ans Spin­nen erin­nern. Ich entschei­de mich für gelbe Wolle, weil sie gut zu sehen ist.

Beim Ein­tr­e­f­fen begeg­ne ich Frau K. Sie ist ganz aufgeregt, weil die Stüh­le anders ste­hen als son­st. Sie find­et, ich muss mich sofort darum küm­mern. Heute sind die Pflegerin­nen, die son­st diese Nach­mit­tage organ­isieren, im Kranken­stand und im Urlaub. Die Vertre­tung ken­nt sich nicht so gut aus. Ich stelle die Stüh­le um und bin schon neugierig, wie viele Men­schen heute dabei sein wer­den. Die Anzahl mein­er Zuhör­erinnen hängt davon ab, wie viele Bewohn­erinnen informiert und in den Saal gebracht werden.

Mit dem schö­nen Auftrittskleid set­ze ich mich ans Spin­nrad. Es sind ein biss­chen weniger Men­schen als son­st – unge­fähr 25 Bewohn­erinnen, zwei Besuch­erinnen von draußen und eine Pflegerin.

Viele der Men­schen kenne ich seit Jahren. Sehr viele sind irgend­wann nicht mehr gekom­men, weil sie bet­tlägerig wur­den oder star­ben, immer wieder sind neue dabei.

Ich gehe durch die Rei­hen und begrüße jeden Men­schen einzeln, indem ich ihm oder ihr die Hand gebe. Bei manchen sage ich: „Schön, dass Sie wieder hier sind“, bei anderen stelle ich mich vor: „Ich bin die Märch­en­erzäh­lerin, es freut mich, dass Sie hier sind.“ Einige ken­nen mich, manche erin­nern sich nicht so recht, wieder andere sind zum ersten Mal dabei. Ich bemühe mich darum, bei jedem Men­schen ganz präsent zu sein und, wenn möglich, Kon­takt herzustellen. Oft dauert es eine Weile, ehe jemand Worte find­et oder mir ins Gesicht schaut. Ich ver­ste­he nicht alles, was gesagt wird, und antworte dann eher auf den Ton­fall mit ein­er fre­undlichen Bestä­ti­gung. Danach lege ich den Wol­lkreis um alle.

Das Erzählen

Anfangs ist ein Zivil­diener mit ein­er Frau da, die noch nie hier war. Sie ist eine der Men­schen mit Demenz, die starkes Redebedürf­nis haben. Er möchte sie in die zweite Rei­he set­zen und meint, „wenn es nicht geht“, soll ich ihn anrufen, dann kommt er sie wieder abholen. Ich erk­läre ihm, dass ich nicht mit­ten in einem Märchen tele­fonieren kann. So überzeuge ich ihn, sel­ber da zu bleiben. Er sitzt neben der Frau.

Bei der Begrüßung begin­nt sie gle­ich mit mir zu reden. Ich „vali­diere“. Sie sagt zum Beispiel etwas über eine Frau, die kom­men soll, und es bräuchte eine Unter­schrift. Ich nehme ihren Ton­fall auf und antworte, dass eine Unter­schrift dem Ganzen Gewicht gäbe. Sie nickt erfreut, weil sie das Gefühl hat, ver­standen wor­den zu sein. Diese Frau wird sehr unruhig, als ich zu erzählen beginne, und ihr Begleit­er bringt sie nach weni­gen Minuten hin­aus, wofür ich dankbar bin.

Ich beginne den Nach­mit­tag mit dem spanis­chen Märchen „Der verza­uberte Zopf“. Die Geschichte ist nicht kom­pliziert, sie hat starke Bilder und Stim­mungen. Es gibt zwar eine Pointe am Ende, sie ist aber nicht sehr wichtig. Ich erzäh­le langsam, wieder­hole manch­es in einem wiederkehren­den Rhyth­mus und Wort­laut. Die Nähar­beit­en der Schnei­derin schmücke ich im Detail aus, denn ich kann sehen, dass diese Arbeit­en wieder­erkan­nt wer­den. Statt der gewohn­ten 15 Minuten dauert die Geschichte hier eine halbe Stunde. Manche sind unruhig, viele reagieren gar nicht, eine in der ersten Rei­he ruft sog­ar an ein­er passenden Stelle „oh je“.

Der Hunger nach Rosi­nen­brötchen und der Wun­sch nach einem besseren Leben lösen Echo aus. In ein­er Szene kämmt die Heldin ein­er alten, schmutzi­gen Bet­t­lerin sehr fre­undlich die Haare. Das zu erzählen ist in dieser Umge­bung beson­ders berührend. Es wird ganz still, auch einige, die son­st ständig murmeln, beruhi­gen sich für einige Augenblicke.

Danach erzäh­le ich „Die Mut­ter des Haus­es“, eine kurze Geschichte, in der immer noch ältere Fig­uren auf­tauchen. Das ist meine Vari­ante vom siebten Vater des Haus­es. Hier wird sog­ar gelacht. Dass sich etwas steigert und die Heldin der Geschichte verblüfft ist, kommt bei den meis­ten an.

Danach

Über­raschter Kom­men­tar der Pflegerin, die noch nie dabei war: „Das hat sog­ar mir gefall­en. Es war richtig spannend.“

Genau­so wie am Anfang gehe ich zu jedem einzel­nen Men­schen und bedanke mich fürs Zuhören. Pflegerinnen tauchen auf und nehmen Bewohn­erinnen mit, von denen ich mich ger­ade noch ver­ab­schieden kann. Ich sage: „Danke fürs Zuhören.“ Manch­mal füge ich hinzu, dass wir uns in einem Monat wieder­se­hen, oder frage auch, ob ihm oder ihr das Märchen gefall­en hat.

Bei vie­len ist der Abschied ähn­lich wie die Begrüßung. Sie brauchen eine ganze Weile, um aus ihrer inneren Welt aufzu­tauchen und in Kon­takt zu gehen. Manche sind in ander­er Stim­mung als vorher und sprechen deut­lich­er. Ich höre zum Beispiel: „Dass Sie sich das alles merken kön­nen!“ und „Erst in einem Monat, das ist lang“ und „Danke, dass Sie immer wieder kom­men“ und mehrmals gemurmelt „schön“, „ja“ und Ähn­lich­es. Ein Mann ver­sucht verge­blich aufzuste­hen, als ich ihm die Hand gebe. Er meint: „Sie sind so schön wie Ihre Märchen.“ Mehrere bemerken, dass es eine beson­dere, eine ungewöhn­liche Geschichte gewe­sen ist.

Ich wick­le meine Wolle wieder auf.

Trau­rig, müde, dankbar

Wie immer bin ich nach diesem Nach­mit­tag erschöpft. Es ist schw­er zu erzählen, wenn es viele Störun­gen und wenige sicht­bare Reak­tio­nen gibt.

Zugle­ich bin ich trau­rig. Viele der Men­schen haben Schmerzen oder lei­den unter der Ver­wirrung und oft auch unter Einsamkeit.

Wie jedes Mal bin ich auch dankbar für die her­zlichen Begeg­nun­gen voller Zuneigung.